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Relief erzählt älteste Geschichte der Türkei
- Aristoteles
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14 Dez 2022 16:56 - 15 Dez 2022 16:11 #1
von Aristoteles
Meum est propositum in taberna mori
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Relief erzählt älteste Geschichte der Türkei wurde erstellt von Aristoteles
Relief erzählt älteste Geschichte der Türkei
Bei Figuren, die vor 11.000 Jahren in Steinwände geritzt wurden, könnte es sich um die älteste narrative Szene dieser Region handeln. Dass dabei Geschlechtsmerkmale dargestellt wurden, ist keine Seltenheit.
Julia Sica (Der Standard 14. Dez. 2022)
Nicht erst seit der Venus von Willendorf ist klar, dass unsere Vorfahren schon vor Jahrtausenden Geschlechtsmerkmale wie Brüste, Vulven und Penisse unverhohlen darstellten. Die Liste an Beispielen aus der Steinzeit hat sich nun verlängert: In der Stadt Sayburç im Süden der Türkei stieß ein Forschungsteam auf ein Steinrelief, in dem auch ein Mann dargestellt wird, der seinen Penis umfasst. Besonders ist das 11.000 Jahre alte Relief, das fast vier Meter misst, aber aus einem anderen Grund. Es dürfte sich nämlich um die bisher ältesten Spuren von Kunst aus dieser Region handeln, bei der Figuren nicht voneinander isoliert sind, sondern miteinander agieren – und damit eine Geschichte erzählen. Der herausragende Fund gelang der Archäologin Eylem Özdoğan von der Universität Istanbul, die mit ihrem Team seit 2021 an dieser Stelle Grabungen durchführt. Nun veröffentlichte sie die zugehörige wissenschaftliche Auswertung im Fachblatt Antiquity .
Während es mittlerweile eine beachtliche Anzahl an steinzeitlichen Spuren gibt, bleibt die Interpretation schwierig. Zu wenig wissen wir über den Alltag der Menschen – von der Sprache bis hin zu Glaubensvorstellungen. Gerade bei der Jungsteinzeit handelt es sich um eine besonders interessante Epoche: Rund 9000 bis 11.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung wurden Jäger-Sammler-Gesellschaften in dieser Region der Erde dem aktuellen Wissensstand zufolge erstmals sesshaft. In der Folge begannen sie, Ackerbau und Viehzucht zu betreiben. Fachleute sprechen hier von der „neolithischen Revolution“ oder „Transition“ – immerhin dürfte es sich nicht um einen schlagartigen Wandel gehandelt haben, sondern um mehrere kleine Schritte. Die bekannteste türkische Fundstätte aus dieser Zeit befindet sich in nur 40 Kilometern Entfernung von Sayburç:
In Göbekli Tepe wurde damals ein beeindruckend großes Bauwerk errichtet, Getreidespuren lassen darauf schließen, dass bei Feierlichkeiten mitunter bierartige Getränke gereicht wurden. Auch dort wurde übrigens eine Skulptur entdeckt, die einen Menschen auf Torso, Gesicht und erigierten Penis reduziert. Bei einem der beiden Leoparden, die an beiden Seiten des Mannes auf dem Steinrelief stehen, ist bei genauem Hinsehen übrigens ebenfalls ein Penis zu erkennen. Doch wie ließe sich die Wandszenerie interpretieren? Studienautorin Özdoğan schreibt selbst von einer „gleichgültigen Haltung“, in der sich der Mann angesichts der gefährlichen Leoparden zu beiden Seiten befindet. Der Archäologe Bernd Müller-Neuhof vom Deutschen Archäologischen Institut vermutet, dass der Mann, der scheinbar wie zur Interaktion mit dem Publikum in den Raum blickt, womöglich zur Begrüßung von Gästen da ist – oder unwillkommene Eindringlinge erschrecken soll. Der nebenstehende Teil zeigt einen Menschen und einen Bullen – und Müller-Neuhof zufolge den eigentlichen erzähltechnisch interessanten Teil, da seiner Ansicht nach nur hier zwei Figuren interagieren. Es könnte sich um eine Jagdszene handeln, vielleicht hält die menschliche Figur ein Lasso, eine Rassel oder eine Schlange in der Hand. Özdoğan, die beide Szenen als Interaktionen interpretiert, vermutet: Der Kampf mit dem Bullen und die Gleichgültigkeit angesichts der Leoparden können erzählen, wie Menschen lernten, wilde Tiere zu unterwerfen. Ein Sinnbild für das Sesshaftwerden der nomadischen Bevölkerung und eine veränderte Haltung gegenüber der Natur also. Welchen Zweck die Steinzeitmenschen von Sayburç bei der Erschaffung des Kunstwerks verfolgten und ob es gar pornografischer Natur sein könnte, bleibt ein Rätsel – an dessen Lösung sich weitere Archäologinnen und Archäologen beteiligen werden. Zusätzliche Funde aus der Stadt könnten weitere Indizien dazu liefern, welche Geschichten man sich damals erzählte und was den Alltag der damaligen Bevölkerung von Anatolien prägte.
Weil sich die 11.000 Jahre alten Spuren heute teilweise unter Wohnhäusern befinden, leitete die türkische Regierung bereits erste Schritte ein, um weitere Grabungen zu ermöglichen. Die modernen Gebäude wurden gekauft, den Bewohnerinnen und Bewohnern stehen neue Häuser zur Verfügung. Fachleute sind erpicht auf neue Erkenntnisse über die kulturellen und gesellschaftlichen Veränderungen in der Jungsteinzeit. Im Laufe der vergangenen Jahre wandelte sich bereits die Vorstellung des berühmten Göbekli Tepe als Ausnahmeerscheinung. Handelte es sich doch nicht um einen außergewöhnlichen Ort, an dem spezielle Rituale durchgeführt wurden? Diese Vermutung lassen jedenfalls Archäologen wie Edward Banning von der Universität Toronto anklingen. Immerhin wurden in der Region mittlerweile weitere Gebäude in einem ähnlichen Stil entdeckt. „Es wird immer offensichtlicher, dass dies die übliche Art ist, wie Dörfer im frühen Neolithikum in diesem Teil der Türkei gebaut wurden“, wird Banning im Magazin Science zitiert. Welche Antworten Sayburç liefert, bleibt abzuwarten.
Bei Figuren, die vor 11.000 Jahren in Steinwände geritzt wurden, könnte es sich um die älteste narrative Szene dieser Region handeln. Dass dabei Geschlechtsmerkmale dargestellt wurden, ist keine Seltenheit.
Julia Sica (Der Standard 14. Dez. 2022)
Nicht erst seit der Venus von Willendorf ist klar, dass unsere Vorfahren schon vor Jahrtausenden Geschlechtsmerkmale wie Brüste, Vulven und Penisse unverhohlen darstellten. Die Liste an Beispielen aus der Steinzeit hat sich nun verlängert: In der Stadt Sayburç im Süden der Türkei stieß ein Forschungsteam auf ein Steinrelief, in dem auch ein Mann dargestellt wird, der seinen Penis umfasst. Besonders ist das 11.000 Jahre alte Relief, das fast vier Meter misst, aber aus einem anderen Grund. Es dürfte sich nämlich um die bisher ältesten Spuren von Kunst aus dieser Region handeln, bei der Figuren nicht voneinander isoliert sind, sondern miteinander agieren – und damit eine Geschichte erzählen. Der herausragende Fund gelang der Archäologin Eylem Özdoğan von der Universität Istanbul, die mit ihrem Team seit 2021 an dieser Stelle Grabungen durchführt. Nun veröffentlichte sie die zugehörige wissenschaftliche Auswertung im Fachblatt Antiquity .
Während es mittlerweile eine beachtliche Anzahl an steinzeitlichen Spuren gibt, bleibt die Interpretation schwierig. Zu wenig wissen wir über den Alltag der Menschen – von der Sprache bis hin zu Glaubensvorstellungen. Gerade bei der Jungsteinzeit handelt es sich um eine besonders interessante Epoche: Rund 9000 bis 11.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung wurden Jäger-Sammler-Gesellschaften in dieser Region der Erde dem aktuellen Wissensstand zufolge erstmals sesshaft. In der Folge begannen sie, Ackerbau und Viehzucht zu betreiben. Fachleute sprechen hier von der „neolithischen Revolution“ oder „Transition“ – immerhin dürfte es sich nicht um einen schlagartigen Wandel gehandelt haben, sondern um mehrere kleine Schritte. Die bekannteste türkische Fundstätte aus dieser Zeit befindet sich in nur 40 Kilometern Entfernung von Sayburç:
In Göbekli Tepe wurde damals ein beeindruckend großes Bauwerk errichtet, Getreidespuren lassen darauf schließen, dass bei Feierlichkeiten mitunter bierartige Getränke gereicht wurden. Auch dort wurde übrigens eine Skulptur entdeckt, die einen Menschen auf Torso, Gesicht und erigierten Penis reduziert. Bei einem der beiden Leoparden, die an beiden Seiten des Mannes auf dem Steinrelief stehen, ist bei genauem Hinsehen übrigens ebenfalls ein Penis zu erkennen. Doch wie ließe sich die Wandszenerie interpretieren? Studienautorin Özdoğan schreibt selbst von einer „gleichgültigen Haltung“, in der sich der Mann angesichts der gefährlichen Leoparden zu beiden Seiten befindet. Der Archäologe Bernd Müller-Neuhof vom Deutschen Archäologischen Institut vermutet, dass der Mann, der scheinbar wie zur Interaktion mit dem Publikum in den Raum blickt, womöglich zur Begrüßung von Gästen da ist – oder unwillkommene Eindringlinge erschrecken soll. Der nebenstehende Teil zeigt einen Menschen und einen Bullen – und Müller-Neuhof zufolge den eigentlichen erzähltechnisch interessanten Teil, da seiner Ansicht nach nur hier zwei Figuren interagieren. Es könnte sich um eine Jagdszene handeln, vielleicht hält die menschliche Figur ein Lasso, eine Rassel oder eine Schlange in der Hand. Özdoğan, die beide Szenen als Interaktionen interpretiert, vermutet: Der Kampf mit dem Bullen und die Gleichgültigkeit angesichts der Leoparden können erzählen, wie Menschen lernten, wilde Tiere zu unterwerfen. Ein Sinnbild für das Sesshaftwerden der nomadischen Bevölkerung und eine veränderte Haltung gegenüber der Natur also. Welchen Zweck die Steinzeitmenschen von Sayburç bei der Erschaffung des Kunstwerks verfolgten und ob es gar pornografischer Natur sein könnte, bleibt ein Rätsel – an dessen Lösung sich weitere Archäologinnen und Archäologen beteiligen werden. Zusätzliche Funde aus der Stadt könnten weitere Indizien dazu liefern, welche Geschichten man sich damals erzählte und was den Alltag der damaligen Bevölkerung von Anatolien prägte.
Weil sich die 11.000 Jahre alten Spuren heute teilweise unter Wohnhäusern befinden, leitete die türkische Regierung bereits erste Schritte ein, um weitere Grabungen zu ermöglichen. Die modernen Gebäude wurden gekauft, den Bewohnerinnen und Bewohnern stehen neue Häuser zur Verfügung. Fachleute sind erpicht auf neue Erkenntnisse über die kulturellen und gesellschaftlichen Veränderungen in der Jungsteinzeit. Im Laufe der vergangenen Jahre wandelte sich bereits die Vorstellung des berühmten Göbekli Tepe als Ausnahmeerscheinung. Handelte es sich doch nicht um einen außergewöhnlichen Ort, an dem spezielle Rituale durchgeführt wurden? Diese Vermutung lassen jedenfalls Archäologen wie Edward Banning von der Universität Toronto anklingen. Immerhin wurden in der Region mittlerweile weitere Gebäude in einem ähnlichen Stil entdeckt. „Es wird immer offensichtlicher, dass dies die übliche Art ist, wie Dörfer im frühen Neolithikum in diesem Teil der Türkei gebaut wurden“, wird Banning im Magazin Science zitiert. Welche Antworten Sayburç liefert, bleibt abzuwarten.
Meum est propositum in taberna mori
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Letzte Änderung: 15 Dez 2022 16:11 von Aristoteles.
Es bedanken sich: Carolus, Karl
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